HJ LIM Beethoven Vortrag
Überlegungen zum richtigen Vortrag der Beethovensonaten
(Hans Ulrich Behner)
Während der seit einigen Jahren als bester lebender Pianist gefeierte Gregorij Sokolow sich unter anderem mit seiner Interpretation von Beethovens Hammerklaviersonate op.106 auf einem breiten Strom der Weltweisheit hinsichtlich seines gemächlichen Tempos treiben lässt, wirkt die junge 1988 geborene koreanisch – französische Ausnahmepianistin HJ LIM wie ein erfrischender Springquell nahe des Ursprungs, welcher der musikalischen Nachwelt durch Carl Czernys Edition von 1842 sowie einer von ihm selbst revidierten Neuauflage von 1850 bei Simrock in Bonn erhalten ist. Erstaunlicherweise hat dieser Beethovenschüler ab 1801 und spätere Lehrer von Franz Liszt eine bewusste Änderung seiner früheren Metronombestimmungen der Beethovensonaten bewusst vollzogen und auch selbst aufgeführt und später seinem Schüler Liszt vermittelt. Diese Veröffentlichungen waren natürlich sowohl für die Wiener Klaviermechanik als auch für Britannien mit seiner Englischen Mechanik bestimmt. Aus diesem Grunde erscheinen Czernys Publikationen auch für die heutige Musikwelt von Interesse zu sein, da Czerny im Gegensatz zu Beethoven nicht ertaubte und somit gewissenhafte Erinnerungen an die metronomischen Absichten seines großen Meisters unter seiner Kontrolle hatte. Überraschenderweise katalogisiert Czerny nur 29 Klaviersonaten, weil er neben op. 49, 1 und 2 auch die Sonate op. 79 in G Dur den Sonatinen zuordnet. HJ LIM beinhaltet auf ihrer EMI Gesamteinspielung von 2012 30 Sonaten, nach Czernys Definition eine Sonate zu viel, nach Ansicht der heutigen Kritiker zwei Sonaten zu wenig ! Jedoch nähert sich HJ LIM wie zuvor Artur Schnabel in erstaunlicher Weise den historischen Vorgaben, weil sie im Sinne von Czerny sowohl das richtige Tempo, die Beherrschung aller sonstigen Schwierigkeiten und die genauen Vortragsangaben bewältigt. Czerny betont ausdrücklich eben dieses richtige Tempo des Mälzelschen Metronoms zwecks Vermeidung einer Verfälschung des Charakters des Tonstücks bei einem falschen Zeitmaß. Außerdem verdeutlicht er, dass manche unfertige und nicht bravouröse Spieler sich auch bei den aufregendsten Tonstücken mit einem ruhigeren und bescheideneren Vortrage begnügen und diesen dann auch noch für den Wahren halten. Im Klartext bedeutet dies, dass viele Pianisten in Ermangelung an Technik dem Publikum ihre mangelhaften Fähigkeiten als erleuchtete esoterische durchaus beabsichtigte Interpretationen verkaufen wollen. Leider wird dieser Trend der Entschleunigung in weiten Kritikerkreisen dann auch noch als besonders genial proklamiert, während die Leistung eines Artur Schnabels in den 1930ern Jahren und von HJ LIM in unserer Gegenwart von vielen immer noch als zu virtuos, kindisch und unreif denunziert werden. Beim Studium der Wiederveröffentlichung von Czernys „Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethovenschen Klavierwerke „ der Universal Edition von 1963 tauchen wir jedoch ein in eine faszinierende und spannende Klavierspielpraxis, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren nur noch von Enkelschülern Schnabels, wie z.B. dem 1989 verstorbenen japanischen Virtuosen Hiroshi Kajiwara live gepflegt wurde. Auch Friedrich Gulda strebte das Beethovensche Ideal an, während Alfred Brendel 1976 und 2001 kapitulierend jammerte, dass Beethovens Hammerklaviersonate von keinem Menschen und sei es der Teufel persönlich auch nur annähernd bewältigt werden könnte. Dank der hochbegabten Jahrhundertbegabung HJ LIM, können wir uns in moderner Aufnahmequalität vom Gegenteil überzeugen lassen. Die EMI/Warner Brothers Gesamteinspielung der 29 Sonaten und der Sonatine op.79 in G-Dur stehen schließlich jedermann zum kritischen Vergleich mit Czernys historischem Vermächtnis zur Verfügung und kündigen gewaltiges aufregendes Beethovenspiel an. Allein der neunminütige Liveausschnitt in YouTube von LIMs Interpretation der Hammerklavierfuge stellt gegenwärtig eine so unvergleichliche pianistische Spitzenleistung dar, wie sie objektiv weder Igor Levit, Gulda, Buchbender und schon gar nicht Brendel und Barenboim jemals in ihrem Leben erreicht haben. Sokolow spielt als esoterisches Schlusslicht die erste Fuge von op. 106, 4. Satz sogar 90 Sekunden langsamer als LIM. LIM benötigt 4 Minuten 46 Sekunden, Sokolow 6 Minuten 16 Sekunden!! Bei LIM ist zudem nichts manipuliert oder gefälscht und jeder Ton sauber gespielt!!! Beim dritten Satz von op. 106 ergibt sich durch die Tempoangabe 96 pro Achtel eine Gesamtlänge von ca. 13 Minuten, was von LIM (12, 45 Min.) und Gulda (13 Min.) auch zufriedenstellend eingehalten wird. Bei Sokolow wird der Satz bis zur Unkenntlichkeit auf 23 Minuten zerdehnt. Joachim Kaiser vertritt die These, dass bei op.106 die Beinahe – Unmöglichkeit, Riesenanspannung und Tempi eben nicht Sache der freien Wahl, sondern von Beethoven vorgeschrieben sind. Kaiser erhebt weiterhin die These, dass ein Spieler, welcher aus Bequemlichkeit abweicht, auf Grund der Hammerklavier Rechtslage die Beweislast trägt! Ich schließe mich dem an mit der Feststellung, dass viele Pianisten unkritisch durch Verlangsamungen hochdramatische Werke gewissermaßen verharmlosen, indem sie den riesenhaften Beethovenschen Energien riesige Bremskräfte entgegensetzen. Wenn Beethoven schnellen und humoristischen Vortrag im Scherzo fordert, entschließen sich viele Pianisten zu Vorsicht mit der bösen Ahnung, dass sie ja eigentlich viel zu langsam sind. Beim von Sokolow zerdehnten dritten Satz von op.106 steht kein „Adagio“, sondern ein „Appassionato con molto sentimento“. Sokolow verwandelt somit eine leidenschaftliche Ballade in einem langweiligen Adagio Monolog!! Bei dem Schlussfugenkomplex verfällt er in verweichliche Abgründigkeit anstatt die durch das prestissimo bedingte leidenschaftliche ausdrucksvolle Spannung. Insbesondere und im minderen Falle schwache Pianisten verbergen diese unnatürliche Langsamkeit unter dem Deckmantel von Klarheit, Schönheit und Ästhetik. Diese Haltung widerspricht jedoch einer vermeintlichen Problemlosigkeit, da „Klarheit“ und „vorsichtige Demonstration“ nicht immer der Weisheit letzter Schluss sind, wenn dadurch der Charakter der Schlussfuge von op.106 zu viel einbüßt! Joachim Kaiser spricht hier ironisierend vom „Wunschkindlichen im reinlichen Matrosenanzug“! Abschließend schlussfolgere ich, dass Interpreten, welche sich jeder Schwierigkeit entziehen, dem Hörer einen uninteressanten Ersatz liefern, bei dem Rationierung zu deutlich spürbar ist. Zu groß ist die Versuchung einer Temporeduzierung aus eher manuellen als musikalischen Gründen, obwohl doch gerade das korrekte Tempo ein wesentlicher Bestandteil des Komponisten darstellt.
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